Entwicklungen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft
Auch für die Einrichtungen und Dienste der Sozial- und Gesundheitswirtschaft hat Corona enorme Belastungen mit sich gebracht. Gleichzeitig ist die unverzichtbare gesellschaftliche Bedeutung der sozialen Leistungen und der Freien Wohlfahrtspflege durch die Pandemie sehr deutlich geworden. Von Beginn der Krise an galt es, diese Bedeutung im Bewusstsein der politischen Entscheider zu halten und fortlaufend eine auskömmliche finanzielle Ausstattung sicherzustellen.
Insgesamt präsentieren sich die Branchen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft weiterhin als wachstumsorientierte und stabile Wirtschaftsbereiche. Die Herausforderungen beim Umgang mit dem Fachkräftemangel und der hohen gesetzlichen Reformdynamik bleiben groß.
„Eine Fortführung und wirkungsvolle Ausgestaltung der Schutzschirme ist absolut notwendig. Die Träger benötigen finanzielle Planungssicherheit, um sich auf ihre systemrelevanten Aufgaben konzentrieren zu können.“
Prof. Dr. Harald Schmitz, Vorstandsvorsitzender
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Corona-Pandemie als akute Herausforderung
Durch die Corona-Pandemie waren die einzelnen Leistungsfelder in unterschiedlichem Maße u. a. von Schließungen, Auslastungsrückgängen, Personalengpässen sowie Mehraufwendungen für Schutzausstattung und Personal konfrontiert. Die Einrichtungen und Dienste wurden durch vielfältige Maßnahmen der Politik in der Krise gestützt. Aufgrund der dynamischen Entwicklung und der nicht absehbaren Dauer der Krise wurden seit Herbst 2020 bereits Programme modifiziert und Fristen verlängert.
Gemäß zweier Umfragen der Bank für Sozialwirtschaft im Mai/Juni und November/Dezember 2020 sind die wirtschaftlichen Herausforderungen der Corona-Pandemie für die Anbieter sozialer Dienste erheblich. In zahlreichen Leistungsfeldern ist nach wie vor keine Normalisierung der Auslastungssituation festzustellen. Auch erachten lediglich knapp 30 Prozent der sozialen Organisationen die Kompensation von pandemiebedingten Ertragsausfällen durch die Schutzpakete von Bund und Ländern als auskömmlich. Ohne die große Bedeutung der Schutzschirmregelungen insgesamt infrage zu stellen, werden erhebliche Verbesserungsbedarfe bei der Gestaltung und Handhabung der Schutzmaßnahmen gesehen. Hierzu zählen u. a. die fehlende Refinanzierung von Mehraufwendungen sowie die Deckelung der Erstattung.
Erfreulich ist, dass weiterhin nur ein kleiner und gegenüber Sommer 2020 sogar rückläufiger Teil der Anbieter aus diesen Herausforderungen derzeit eine akute Insolvenzgefahr für die eigene Organisation ableitet.
Des Weiteren belegen die Umfragen der BFS, dass die Bedeutung der Digitalisierung zur Bewältigung der Pandemie nicht nur zu Beginn, sondern auch im Verlauf der Krise stark zugenommen hat. Nicht zuletzt tritt in beiden Umfragen überaus deutlich zutage, dass das alles beherrschende Thema des Fachkräftemangels auch für die Bewältigung der Corona-Krise eine zentrale Rolle spielt und ein hoher Unterstützungsbedarf bei der qualifizierten Personalgewinnung und Personalentwicklung besteht.
Über diese unmittelbaren Auswirkungen hinaus erhöht die Krise die Komplexität der Rahmenbedingungen. Rezessionsbedingt verengen sich die finanziellen Spielräume der öffentlichen Hand und damit wichtiger Finanzierungssäulen der sozialen Organisationen. Erheblich gestiegen ist der Handlungsdruck hinsichtlich der Digitalisierung. Zudem ist von einem beschleunigten Voranschreiten des Konsolidierungsprozesses auszugehen. Es sind aber auch krisenbedingte Chancen für das Sozial- und Gesundheitswesen auszumachen. So wurde die Systemrelevanz sozialer Organisationen und der Freien Wohlfahrtspflege in der Krise evident. Das Sozial- und Gesundheitswesen könnte für einen Teil der Bevölkerung als Berufs- und Beschäftigungsfeld an Attraktivität gewinnen. Zudem könnte die Gleichbehandlung der Freien Wohlfahrtspflege und gemeinnütziger Träger mit gewerblichen Unternehmen hinsichtlich Finanzierungs- und Förderbedingungen nachhaltig erhöht werden.
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Fachkräftemangel weiterhin problematisch
In den Wirtschaftszweigen „Gesundheitswesen“ sowie „Pflege und Soziales“ steigt die Nachfrage an qualifizierten Mitarbeiter*innen weiterhin stark an. Der Vergleich zwischen Oktober 2019 und Oktober 2020 zeigt einen Zuwachs um 56.000 bzw. 2,2 Prozent sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter im Gesundheitswesen sowie einen vergleichbar hohen Zuwachs im Bereich Pflege und Soziales mit rund 54.000 bzw. 2,2 Prozent.
Weiterhin erhöht sich die Nachfrage nach Arbeitskräften stärker als das Angebot. So kamen im Dezember 2020 auf 100 gemeldete Stellen für examinierte Altenpflegefachkräfte und -spezialisten im Bundesdurchschnitt rechnerisch lediglich 34 Arbeitslose. Die durchschnittliche Vakanzzeit der Stellenangebote lag mit 210 Tagen rund 59 Prozent über dem Durchschnitt aller Berufe auf der Ebene der Fachkräfte und Spezialisten. Ähnlich prekär stellt sich die Situation bei der Gesundheits- und Krankenpflege, der Humanmedizin und für andere Berufsgruppen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft dar.
Seit dem 1. Januar 2020 wird die Reform der Pflegeberufe umgesetzt. Die Ausbildungen in der Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege wurden zu einer generalistischen Ausbildung zusammengeführt. Im Hinblick auf die Gehaltsunterschiede zwischen den examinierten Altenpflegekräften und den Krankenpflegekräften wird in der Altenpflegebranche befürchtet, dass die Nachwuchskräfte sich vermehrt für den Bereich der Krankenpflege entscheiden werden und sich damit der Personalnotstand in der Altenpflege verschärft. Zudem bietet ein Großteil der Pflegeschulen nicht den gesonderten Abschluss in der Altenpflege an, sodass die freie Wahlmöglichkeit der Schülerinnen und Schüler regional eingeschränkt sein kann.
„Die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts schafft notwendige unternehmerische Handlungsspielräume und unterstützt so die Chancengleichheit aller Marktteilnehmer.“
Oliver Luckner, Mitglied des Vorstandes
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Große Reform des Gemeinnützigkeitsrechts
Mit dem Jahressteuergesetz 2020 wurde das Gemeinnützigkeitsrecht tiefgreifend reformiert. Für steuerbegünstigte Körperschaften ergeben sich in vielen Bereichen erhebliche Vorteile.
So werden künftig auch Servicegesellschaften und Holdinggesellschaften als steuerbegünstigte Körperschaften anerkannt. Dies erleichtert die Kooperation zwischen steuerbegünstigten Körperschaften maßgeblich. Darüber hinaus profitieren kleinere Organisationen von einer höheren Bagatellgrenze für steuerpflichtige Tätigkeiten und der Ausnahme vom Gebot, alle Mittel zeitnah ausgeben zu müssen. Die Reform erhöht die Rechtssicherheit und baut Restriktionen für Immobilieninvestitionen ab.
Zu den fortbestehenden Problemfeldern des Gemeinnützigkeitsrechts gehören u. a. die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes für Zweckbetriebe sowie die steuerlichen Hürden für einen Ausstieg aus der Gemeinnützigkeit.
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Geplante Reform der Pflegeversicherung
Noch in der laufenden Legislaturperiode soll die Pflegeversicherung eine grundsätzliche Neuausrichtung erfahren. Im Oktober 2020 hat das Bundesgesundheitsministerium konkrete Reformvorschläge bekannt gegeben. Demnach könnte eine Pflegereform auf drei Säulen beruhen. Erstens ist eine Begrenzung des Eigenanteils der Bewohner*innen stationärer Pflegeeinrichtungen an den Kosten für Pflege und Betreuung hinsichtlich Zahlungshöhe und Zahlungsdauer geplant. Zweitens könnte die Bezahlung der Mitarbeiter*innen nach Tarif die Voraussetzung für die Abrechnung der Leistungen von Pflegeheimen oder -diensten mit der Pflegeversicherung werden. Und drittens soll die Pflege durch Angehörige weitergehende Unterstützung erfahren.
Infolge einer Deckelung des Eigenanteils für die stationäre Pflege werden preisliche Nachteile für alternative Wohnformen der Seniorenhilfe, z. B. ambulant betreuter Wohngemeinschaften, befürchtet.
Weitere Reformansätze, die in den letzten Jahren intensiv untersucht und diskutiert wurden, finden in den Plänen des Bundesgesundheitsministeriums bisher keine Berücksichtigung. Neben der vollständigen Verlagerung der medizinischen Behandlungspflege in das SGB V gehört hierzu insbesondere der leistungsrechtliche Abbau von Sektorengrenzen. Insofern ist weiterhin mit intensiven Diskussionen über die anstehenden Weichenstellungen bei der Sozialen Pflegeversicherung zu rechnen.
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Konsolidierung des Krankenhaussektors
Seit Beginn der Corona-Pandemie stehen die deutschen Krankenhäuser vor besonderen Herausforderungen. Die meisten Einrichtungen haben die OP-Auslastung aus 2019 noch nicht wieder erreicht. Grund hierfür sind die Regelungen zur Freihaltung von Kapazitäten in den Intensivbereichen, die gesteigerten Schutzmaßnahmen und Hygiene-Anforderungen sowie eine Zurückhaltung der Patienten bei planbaren Operationen.
Aus dem hohen prozessualen Aufwand, der mit der Versorgung von Corona-Patienten einhergeht, sowieso dem gesteigerten Dokumentations- und Bürokratieaufwand resultiert eine massive Belastung für das pflegerische und ärztliche Personal. Durch zusätzliche Quarantäne- oder Krankheitsfälle verschärft sich die ohnehin angespannte Personalsituation weiterhin.
Mit der Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown kamen im ersten Quartal des Berichtsjahres die meisten Aktivitäten im Zusammenhang mit Transaktionen, Fusionen und Verbundbildungen im Krankenhaussektor zum Erliegen. Der Markt erholte sich jedoch schnell, sodass im dritten Quartal kumuliert fast so hohe Aktivitäten verzeichnet wurden wie im ganzen Jahr 2018.
Durch die aktuelle Finanzierungssystematik, den eklatanten Fachkräftemangel sowie Neuregelungen bei der Krankenhaus-Fusionskontrolle ist davon auszugehen, dass sich der Konsolidierungs- und Konzentrationsprozess weiter fortsetzt. So sind Krankenhäuser in hohem Maße gefordert, ihren Versorgungsansatz zu verändern. Das traditionelle Krankenhaus als zentrales Gebäude, welches das gesamte Leistungsspektrum aus einer Hand anbietet, wird künftig seltener zu finden sein. Der Trend geht hin zu flexiblen Netzwerkstrukturen, Verbundlösungen und immer größeren Unternehmen.
Im Herbst 2020 wurde das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) beschlossen. Hiermit wird das „Zukunftsprogramm Krankenhäuser“ als Bestandteil des umfassenden Konjunkturprogramms der Bundesregierung umgesetzt. Im Mittelpunkt des KHZG steht die finanzielle Förderung moderner Notfallkapazitäten und einer besseren digitalen Infrastruktur im Umfang von bis zu 4,3 Mrd. Euro. Zudem wurden den Krankenhäusern finanzielle Hilfen während der Corona-Pandemie zugesichert.
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Dritte Reformstufe des Bundesteilhabegesetzes
Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes hat im Jahr 2020 die dritte Reformstufe erreicht. Die Eingliederungshilfe wurde aus dem System der Sozialhilfe (SGB XII) ausgegliedert und in ein eigenes Leistungsgesetz (SGB XI - Teil 2 Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen) verlagert. Die Aufteilung der Fachleistungen der Eingliederungshilfe von den existenzsichernden Leistungen soll im Zeichen der Transparenz und Selbstbestimmung der Betroffenen stehen. Die Umsetzung führte bei den Leistungserbringern zu einem zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Die Ermittlung von Hilfebedarfen und Leistungsansprüchen von Menschen mit Behinderung und der Leistungsvergütung der Anbieter sowie die Strukturen für die Investitionskostenrefinanzierung verlangten hohe personelle Ressourcen. Verzögerungen beim Zufluss der Sozialhilfeleistungen zum Lebensunterhalt und zu den Kosten der Unterkunft an die Einrichtungen traten vereinzelt auf.
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Europäische Entwicklungen
Das Jahr 2020 wurde auch auf EU-Ebene durch die Covid-19-Pandemie dominiert. Dabei konnte die Europäische Union trotz großer Schwierigkeiten wichtige Weichenstellungen vornehmen. Daran war auch die Bundesrepublik als Inhaberin der EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 maßgeblich beteiligt.
So konnte nach langen Verhandlungen der sog. Mehrjährige Finanzrahmen, also der EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027, in Höhe von 1,07 Billionen Euro verabschiedet werden. Zudem wurde der Wiederaufbaufonds „Next Generation“ zur EU-weiten Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro aufgelegt.
Im Rahmen der medizinischen Pandemiebekämpfung konnte die EU-Kommission Ende Dezember den ersten Impfstoff für Europa zulassen, der allen Mitgliedstaaten gleichzeitig zur Verfügung gestellt wird. Keine relevanten Fortschritte konnten dagegen in der EU-Migrationspolitik erzielt werden. Beispielhaft hierfür ist das Ausbleiben notwendiger, gesamteuropäischer Hilfen nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos sowie das Fehlen einer gemeinsamen Strategie bei der Seenotrettung in Fällen von Flucht und Migration über das Mittelmeer in die EU.
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Ausblick
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Sozial- und Gesundheitswesen und die Freie Wohlfahrtspflege werden sich erst ab 2021 vollständig zeigen. Von großer Bedeutung für die wirtschaftliche Situation der Einrichtungen und Dienste ist die Perspektive für eine Rückkehr zum regulären Geschäftsbetrieb. Für das Abfangen negativer wirtschaftlicher Konsequenzen werden staatliche Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen zunächst weiterhin eine zentrale Rolle spielen.
Daneben bestehen elementare Herausforderungen wie der Fachkräftemangel, der hohe Investitions- und Finanzierungsbedarf, die Digitalisierung, das drängende Fusionsgeschehen sowie volatile rechtliche Rahmenbedingungen fort. In der Folge steigen die Anforderungen an die Betriebsführung der sozialen Organisationen weiter erheblich. Neben der qualifizierten Personalgewinnung und Personalentwicklung rücken dabei auch das betriebliche Immobilienmanagement und eine nachhaltige Immobilienstrategie verstärkt in den Fokus. In 2021 hat die BFS dieses Themenfeld in den Untersuchungsfokus ihres Research gestellt.