Entwicklungen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft

Im Berichtsjahr war die fortdauernde Corona-Pandemie abermals eine große Herausforderung für die Akteure der Sozial- und Gesundheitswirtschaft. Mit der Fortsetzung der Befragungsreihe zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf das Sozial- und Gesundheitswesen und die Freie Wohlfahrtspflege hat die Bank für Sozialwirtschaft in Kooperation mit den Verbänden der Leistungserbringer erneut die Belastungen für ihre Kundenbranchen transparent gemacht und die große Bedeutung einer Fortführung der Schutzpakete von Bund und Ländern verdeutlicht.

Mitte des Jahres brachte die Hochwasserkatastrophe in mehreren Bundesländern auch für eine Reihe sozialer Einrichtungen und Dienste großes menschliches Leid und eine existenzielle wirtschaftliche Bedrohung. Gleichzeitig schärfte das Ereignis bei vielen Menschen das Bewusstsein für die globale Jahrhundertaufgabe einer Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Ziel ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit.

  • Herausforderungen durch die Corona-Pandemie bestehen fort

    Durch die anhaltende Corona-Pandemie waren die einzelnen Leistungsfelder auch in 2021 in unterschiedlichem Maße u. a. von Auslastungsrückgängen, Personalengpässen sowie Mehraufwendungen für Schutzausstattung und Personal betroffen. Weiterhin wurden die Einrichtungen und Dienste durch vielfältige Maßnahmen der Politik in der Krise gestützt. Aufgrund der dynamischen Entwicklung und der nicht absehbaren Dauer der Pandemie wurden bestehende Programme modifiziert und Fristen verlängert.

    Die in den Monaten September und Oktober 2021 bereits zum vierten Mal durchgeführte Umfrage der Bank für Sozialwirtschaft hat ergeben, dass die wirtschaftlichen Herausforderungen der Corona-Pandemie für die Anbieter sozialer Dienste weiterhin erheblich sind. Erfreulich ist, dass nach wie vor nur ein kleiner und gegenüber den vorherigen Umfragen sogar rückläufiger Teil der Anbieter aus diesen Herausforderungen eine akute Insolvenzgefahr für die eigene Organisation ableitet. Im Vergleich zu anderen Branchen hat sich die Sozialwirtschaft im bisherigen Pandemieverlauf insgesamt als krisenresistent erwiesen.

    Mit dem absehbaren Auslaufen der Schutzmaßnahmen sind diverse Risiken für die Einrichtungen und Dienste des Sozial- und Gesundheitswesens verbunden. So können die Hilfen vereinzelt Insolvenzen verschoben haben, die bereits vor der Pandemie drohten. Zudem besteht die Unsicherheit, dass Ausgleichszahlungen aus den Schutzschirmen zum Teil zurückgefordert werden. Entscheidend für die Bewältigung dieser Risiken ist eine zügige Rückkehr der jeweiligen Einrichtung in den Regelbetrieb.

    Auf die Beschäftigung in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft nahm die Corona-Pandemie bislang nur in geringem Maß Einfluss. In der Altenpflege zeigte sich das Beschäftigungswachstum im ersten Pandemiejahr zwar etwas geringer, im Gegensatz zur Gesamtbeschäftigung blieb die Veränderung zum Vorjahr jedoch positiv. Auch die Zahl der Auszubildenden zur Pflegefachperson ist leicht gestiegen.

  • Fachkräftemangel als Risiko für Investments

    Die Beschäftigung in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft expandiert weiterhin sehr dynamisch. Zwischen November 2020 und November 2021 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Wirtschaftszweig „Gesundheitswesen“ um 60.400 bzw. 2,3 % gestiegen. Im Bereich „Heime und Sozialwesen“ lag der Zuwachs bei rund 49.500 Personen bzw. 2,0 %.

    Weiterhin zeigt sich eine ausgeprägte Mangelsituation in der Verfügbarkeit von Arbeitskräften. Im Jahresdurchschnitt 2021 standen bundesweit 100 gemeldeten Stellen für examinierte Altenpflegefachkräfte und -spezialisten lediglich 36 Arbeitslose gegenüber. Mit 228 Tagen lag die durchschnittliche Vakanzzeit der Stellenangebote rund 92 % über dem Durchschnitt aller Berufe auf der Ebene der Fachkräfte und Spezialisten. Ähnlich prekär stellt sich die Situation bei der Gesundheits- und Krankenpflege, der Humanmedizin und für andere Berufsgruppen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft dar. Die Gewinnung und Bindung des erforderlichen Personals ist für viele Einrichtungen ein signifikantes Hindernis zum Ausbau der Geschäftstätigkeit sowie häufig das Hauptrisiko für ein Investment.

    „Die Gewinnung und Bindung des erforderlichen Personals ist für viele Einrichtungen ein signifikantes Hindernis zum Ausbau der Geschäftstätigkeit sowie häufig das Hauptrisiko für ein Investment.“

    Thomas Kahleis, Mitglied des Vorstandes

    Im Zusammenhang mit der am 16. März 2022 in Kraft getretenen, einrichtungsbezogenen Impfpflicht wird ein Verlust von Arbeitskräften insbesondere in der Pflege befürchtet. Im Januar 2022 meldete die Bundesagentur für Arbeit bereits eine erhöhte Anzahl arbeitssuchender Pflegekräfte von rund einem Prozent der Beschäftigten der Branche. Die Arbeitgeber wollen in aller Regel an ihrem Personal festhalten und von einer Kündigung ihrerseits bei nicht geimpftem Personal absehen.

  • Pflegereform bleibt hinter den Ankündigungen zurück

    Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) wurden Mitte 2021 Reformmaßnahmen für die pflegerische Versorgung beschlossen. Von den im Vorfeld bekannt gewordenen Reformplänen hat letztlich nur ein kleiner Teil Eingang in das GVWG gefunden. Dennoch ist die Umsetzung des Gesetzes mit komplexen strategischen und operativen Anforderungen an die Leistungsanbieter verbunden.

    Für eine Verbesserung der Bezahlung von Pflegekräften regelt das GVWG, dass ab dem 1. September 2022 Versorgungsverträge mit Pflegeeinrichtungen nur noch dann fortgeführt oder abgeschlossen werden dürfen, wenn sie eine Entlohnung für ihre in der Pflege oder Betreuung tätigen Beschäftigten auf Tarifniveau oder nach kirchlichen Arbeitsregelungen leisten. Darüber hinaus konkretisiert das GVWG die ab 1. Juli 2023 geltende neue Personalbemessung in der vollstationären Pflege mit bundeseinheitlichen, pflegegradbezogenen Personalschlüsseln und einem neuen Personalmix aus Fach- und Hilfskräften. Zudem sieht das GVWG eine finanzielle Stärkung der Kurzzeitpflege sowie die gestaffelte Begrenzung des pflegebedingten Eigenanteils in der vollstationären Pflege vor.

    Weitere Änderungen in den Rahmenbedingungen hat die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag vorgezeichnet. Geplant sind u. a. der Ausbau der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege, ein flexibles Budget für Kurzzeit- und Verhinderungspflege, eine regelmäßige Dynamisierung des Pflegegeldes, die Aufnahme quartiersnaher Angebote in das SGB XI und weitergehende Mitgestaltungsmöglichkeiten für Kommunen. In der Folge könnte die strukturelle Verschiebung insbesondere zugunsten der Tages- und Kurzzeitpflege sowie des Betreuten Wohnens an Dynamik gewinnen.

    Handlungsbedarf besteht weiterhin bei der Finanzierung von Pflege. So wird die mit dem GVWG beschlossene Reduktion der pflegebedingten Eigenanteile in der stationären Pflege nicht die steigende finanzielle Belastung der Pflegebedürftigen durch Tarifentlohnung und Mehrpersonalisierung kompensieren. Das Armutsrisiko der Pflegebedürftigen bleibt hoch, und es drohen Beeinträchtigungen für die ebenfalls mit Mehrausgaben verbundenen, notwendigen Investitionen in die Pflegeinfrastruktur. Im Koalitionsvertrag werden deshalb weitere Maßnahmen zum Absenken des Eigenanteils in Aussicht gestellt. Insgesamt wird eine hohe Volatilität der rechtlichen Rahmenbedingungen fortbestehen.

    „Bei der Finanzierung von Pflege besteht weiterhin Handlungsbedarf. Das Armutsrisiko der Pflegebedürftigen bleibt hoch, und es drohen Beeinträchtigungen bei notwendigen Investitionen in die Pflegeinfrastruktur.“

    Prof. Dr. Harald Schmitz, Vorstandsvorsitzender

  • Beschleunigung der Strukturveränderung

    Die akuten Corona-bedingten Herausforderungen und der strukturelle Veränderungsdruck treiben die Aktivitäten bei Transaktionen, Fusionen sowie Verbund- und Kettenbildungen im Krankenhaus- und Pflegesektor weiter merklich an. Das Transaktionsniveau lag in 2021 erneut auf hohem Niveau und schloss damit an das Spitzenjahr 2020 an. Weiterhin war der Eintritt von privaten Investoren aus dem In- und Ausland in die Märkte zu beobachten. Zudem ereignete sich im Berichtsjahr mit dem Zusammenschluss von vier katholischen Krankenhausträgern aus Dortmund und Umgebung eine Klinikfusion in einer für den deutschen Krankenhaussektor bisher beispiellosen Größenordnung.

    Die neue Bundesregierung plant weitere Strukturveränderungen im Gesundheitswesen. Hierzu zählen u. a. die Ambulantisierung bislang stationär erbrachter Leistungen, Versorgungsverträge für bevölkerungsbezogene Gesundheitsregionen, eine sektorenübergreifende Versorgungsplanung sowie verschiedene Maßnahmen für unterversorgte Regionen. Die Krankenhausplanung und -finanzierung soll eine Weiterentwicklung erfahren und sich stärker an Kriterien wie der Erreichbarkeit und der demografischen Entwicklung orientieren.

  • Erleichterter Zugang zu Rehabilitationsleistungen

    Durch die teilweise Abkehr von der restriktiven Vergabe von Rehabilitationsmaßnahmen ist davon auszugehen, dass der Rehabilitationsmarkt zeitnah ein Nachfragewachstum erleben wird. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat Ende des Jahres 2021 beschlossen, dass die Verordnungen von geriatrischer Rehabilitation und Anschlussrehabilitation nach einem Krankenhausaufenthalt einfacher werden soll. Bei der geriatrischen Rehabilitation für Versicherte ab 70 Jahren sollen die gesetzlichen Krankenkassen zukünftig nicht mehr prüfen, ob die Maßnahme medizinisch erforderlich ist. Auch soll bei bestimmten Krankheitsbildern die Vorab-Prüfung der Krankenkassen für eine Reha nach einem Krankenhausaufenthalt entfallen.

  • Sozialwirtschaft als Säule einer nachhaltigen Zukunftsgestaltung

    Der Megatrend Nachhaltigkeit beeinflusst soziale Organisationen in vielfacher Hinsicht und macht Veränderungen in zentralen betrieblichen Handlungsfeldern notwendig. Neben tiefgreifenden Veränderungen der gesellschaftlichen Wertvorstellungen konkretisieren sich die Anforderungen in Initiativen, Gesetzen und Verordnungen auf internationaler und nationaler Ebene. In diesem Zusammenhang gelten seit März 2021 umfassende Berichtspflichten für Unternehmen und den Finanzsektor. Kapitalgeber und Finanziers sind aufgefordert, bei ihren Investitionsentscheidungen die von der EU-Kommission vorgeschriebenen Nachhaltigkeitskriterien im Hinblick auf Soziales, Umwelt und Unternehmensführung zu berücksichtigen.

    Zum 1. Januar 2022 ist das europäische Klassifizierungssystem für Nachhaltigkeitsaktivitäten – die sogenannte Taxonomie – für die ersten Umweltziele in Kraft getreten. Vorgaben für weitere ökologische Nachhaltigkeitsziele sollen in 2023 folgen. Noch am Anfang steht u. a. die Klassifizierung der sozialen Nachhaltigkeit. Ein Bekräftigen vorhandener Ansätze sowie zusätzliche Vorgaben und Anreize für eine Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit sieht auch der Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode vor.

    Mit ihrer originären Arbeit leistet die Sozial- und Gesundheitswirtschaft bereits einen weitreichenden Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft. Dennoch sind auch soziale Organisationen in zunehmendem Maße aufgefordert, die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit in den Blick zu nehmen und in eine betriebliche Nachhaltigkeitsstrategie einzubinden. Mit einer Analyse der Möglichkeiten und Grenzen für eine nachhaltige Leistungserbringung wird die Bank für Sozialwirtschaft die Akteure bei dieser anspruchsvollen Aufgabe unterstützen. Die Erkenntnisse werden in 2022 im Rahmen einer Fachserie veröffentlicht.

    „Auch soziale Organisationen sind in zunehmendem Maße aufgefordert, die ökologischen und sozialen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit in den Blick zu nehmen und in eine betriebliche Nachhaltigkeitsstrategie einzubinden.“

    Oliver Luckner, Mitglied des Vorstandes

  • Europäische Entwicklungen

    Das Jahr 2021 war auf europäischer Ebene erneut durch die COVID-19-Pandemie geprägt. Daher lag ein Fokus auf dem Wiederaufbaufonds „Next Generation“ mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie.

    Als ein zentrales gesundheitspolitisches Ziel wurde die Etablierung einer europäischen Gesundheitsunion formuliert, in der die EU-Staaten gemeinsam an der Krisenbereitschaft und -bewältigung mitwirken, zur sicheren Versorgung medizinischer Produkte beitragen und in enger Zusammenarbeit die Prävention, Behandlung und Nachsorge von Krankheiten verbessern. In diesem Zusammenhang wurde die neue Europäische Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen eingerichtet.

    Im Rahmen der EU-Sozialpolitik wurde der Aktionsplan für die 2017 proklamierte europäische Säule sozialer Rechte verabschiedet, der konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung der 20 Grundsätze der Säule u. a. zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen, Gesundheitsvorsorge und Langzeitpflege enthält. Für 2022 wurde eine neue EU-Strategie für Pflege und Betreuung angekündigt, die sich sowohl an Pflegepersonen als auch an Pflegebedürftige richten und das gesamte Spektrum von der Kinderbetreuung bis zur Langzeitpflege abdecken soll.

  • Ausblick

    Im dritten Jahr gibt es erstmals eine realistische Perspektive für eine weitgehende Überwindung der Corona-Pandemie. Die erhoffte Rückkehr zur Normalität ist für zahlreiche Sozialunternehmen mit neuen Herausforderungen verbunden. So sind Strategien für mögliche Rückforderungen aus den Ausgleichszahlungen zu entwickeln. In einigen Bereichen muss die Auslastung zügig wieder gesteigert werden. Die hierfür benötigten Personalkapazitäten haben sich tendenziell weiter verknappt.

    Daneben fordern die stetig zunehmende Nachfrage, die fortwährenden Veränderungen in den Versorgungs- und Branchenstrukturen und die weiterlaufende Umsetzung von Reformmaßnahmen wie dem Bundesteilhabegesetz die Aufmerksamkeit der sozialen Organisationen genauso wie die vielfältigen Pläne der neuen Bundesregierung. Auch drängt neben der Digitalisierung das zentrale Zukunftsthema Nachhaltigkeit mit Vehemenz in den Fokus der Sozialunternehmen.

    Zu den Voraussetzungen für eine weiterhin erfolgreiche Entwicklung der Einrichtungen und Dienste in diesem Umfeld zählen nicht zuletzt kluge Investitionsentscheidungen und Finanzierungsstrategien sowie die Kooperation mit einem branchenkundigen Finanzierungspartner.

Zuwachs der Versorgungsbedarfe