Entwicklungen in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft

Im Berichtsjahr zeigten sich die Branchen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft weiterhin als wachstumsorientierte und stabile Wirtschaftszweige. In den verschiedenen Leistungsfeldern stieg die Inanspruchnahme der Leistungen kontinuierlich an, und die Beschäftigung wurde weiterhin stark ausgebaut. Dennoch zeichnen sich deutliche Folgen des Krieges in der Ukraine und der infolgedessen massiv gestiegenen Energiepreise sowie gestörten Lieferketten und nachwirkenden Folgen der Corona-Pandemie ab.

Befragungsergebnisse der Bank für Sozialwirtschaft und der BFS Service GmbH verdeutlichen eine Verschlechterung der Wirtschaftlichkeit infolge von Energiekrise und Inflation sowie den Bedarf an einem kurzfristigen, zielgerechten Ausgleich der gegenwärtigen Mehrkosten, um die flächendeckende Versorgung weiterhin zu gewährleisten. Die Bundesregierung hat bereits finanzielle Unterstützung in Form eines Härtefallfonds zugesagt, welcher von den Bundesländern in eigenem Ermessen ergänzt werden kann. Darüber hinaus haben kleine und mittlere Unternehmen, Krankenhäuser, Pflegeheime, Rehabilitationseinrichtungen, Vereine, Arztpraxen, Kindertagesstätten sowie soziale und kulturelle Einrichtungen die Möglichkeit, von der Gas- und Strompreisbremse zu profitieren. Inwiefern die angekündigten Hilfsmaßnahmen den Forderungen der Leistungserbringer im Sozial- und Gesundheitswesen gerecht werden, bleibt abzuwarten.

Vor dem Hintergrund der auch künftig stark steigenden Versorgungsbedarfe zeichnen sich die Herausforderungen hinsichtlich Finanzierung und Fachkräftemangel immer deutlicher ab.

  • Entlastung von Pflegekräften in Krankenhäusern

    Im Krankenhaussektor hat der Deutsche Bundestag zuletzt das Krankenhauspflegeentlastungsgesetz (KHPflEG) beschlossen, welches vor allem einen stufenweisen Personalaufbau durch die Anwendung eines neuen Instruments zur Personalbemessung (Pflegepersonalregelung PPR 2.0) herbeiführen möchte. Darüber hinaus sieht das Gesetz die Förderung der Geburtshilfe, Hebammenversorgung und Kinderheilkunde vor. Des Weiteren wird eine neue Vergütungsform für eine Krankenhaustagesbehandlung implementiert, womit die Lücke zwischen dem ambulanten Vergütungssystem und stationären Fallpauschalen geschlossen werden soll.

    Während die finanzielle Besserstellung der Geburtshilfe, Hebammenversorgung und Kinderheilkunde zu begrüßen ist, wird der akute Personalmangel der Wirksamkeit einer neuen Personalbemessung enge Grenzen setzen. Die Neuerungen in der Vergütung von Krankenhausleistungen sind als erster Schritt zu bewerten, die bisher strikten Grenzen zwischen der Vergütung ambulanter und stationärer Versorgungsleistungen aufzuweichen.

    „Die Reformüberlegungen zeigen ein deutliches Abweichen vom derzeit leistungs- und mengenab-hängigen Vergütungssystem. Inwiefern damit aber das generelle Problem knapper Ressourcen im Gesundheitswesen verbessert wird, bleibt abzuwarten.“

    Prof. Dr. Harald Schmitz, Vorstandsvorsitzender

  • Ankündigung umfassender Reformvorhaben im Krankenhaussektor

    Mit dem KHPflEG wird eine grundlegende Finanzierungsreform in Deutschlands Krankenhäusern eingeleitet. Im Berichtsjahr wurden insgesamt drei Stellungnahmen einer Regierungskommission veröffentlicht, welche eine grundlegende Neuausrichtung der Krankenhausversorgung empfehlen. Die neuen Ansätze zeigen ein deutliches Abweichen vom derzeit leistungs- und mengenabhängigen Vergütungssystem. So wird z. B. empfohlen, zukünftig einen festen Betrag zur Finanzierung von Vorhaltekosten zu definieren, den Krankenhäuser je nach ihrer Versorgungsstufe erhalten. Damit sollen Fixkosten z. B. für Personal, eine Notaufnahme oder Medizintechnik abgedeckt werden. Darüber hinaus sollen Ansätze für eine sektorenübergreifende Versorgung etabliert werden. Des Weiteren ist geplant, die derzeit grobe Zuweisung von Fachabteilungen (z. B. Innere Medizin) zu Krankenhäusern durch genauer definierte Leistungsgruppen (z. B. Kardiologie) zu ersetzen und an einen Vergütungsanspruch zu koppeln.

  • Tarifliche Bezahlung in der Altenpflege verpflichtend

    Seit dem 1. September 2022 muss eine Pflegeeinrichtung, um als solche zugelassen zu sein, entweder selbst tarifgebunden sein, eine Bezahlung nach kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen leisten oder ihre Pflege- und Betreuungskräfte mindestens in Höhe von in der jeweiligen Region anwendbaren Pflege-Tarifverträgen entlohnen. Die Umsetzung der Tarifpflicht war und ist mit erheblichen Herausforderungen für die Pflegeeinrichtungen verbunden. Insbesondere bei den vorher nicht an einen Tarifvertrag oder kirchliche Arbeitsrechtsregelungen gebundenen Einrichtungsträgern kam es im Berichtsjahr zu Steigerungen der Personalkosten und in der Folge auch zu Erhöhungen der Eigenanteile der betroffenen Pflegebedürftigen. Die Einrichtungsträger sind seitdem gefordert, neben den drastisch gestiegenen Energiekosten auch die höheren Personalkosten in den Vergütungsverhandlungen zu berücksichtigen, um eine Unterfinanzierung zu vermeiden.

    „Die Verpflichtung zur tariflichen Bezahlung in der Altenpflege darf nicht zu weiter steigenden Eigenanteilen der Pflegebedürftigen führen.“

    Thomas Kahleis, Mitglied des Vorstandes

  • Herausfordernde Rahmenbedingungen für Investitionen und Transaktionen

    Im Jahr 2022 führten steigende Bau- und Finanzierungskosten, Lieferengpässe sowie unsichere Perspektiven für die Inflations- und Zinsentwicklung zu einer merklichen Zurück­haltung bei Investitionen in den Neubau, in Umbau und Sanierung sowie die Transaktion von bestehenden Sozial- und Gesund­heits­immobilien. Im Jahr 2023 könnte sich das Investitions- und Transaktions­geschehen aber wieder stabilisieren. Hierfür sprechen u. a. eine sinkende Auslastung der Baubranche, welche den Preiswettbewerb erhöht, sowie eine Abwärtskorrektur der Ankaufspreise bei Transaktionen.

  • Die Gestaltung einer nachhaltigen Sozialwirtschaft

    Auf internationaler und nationaler Ebene wurde im Jahr 2022 an zahlreichen Initiativen, Gesetzen und Verordnungen zur Implementierung von Nachhaltigkeit gearbeitet. Diese werden sukzessive Anwendung bei den Unternehmen finden.

    Zum 1. Januar 2022 ist das europäische Klassifizierungssystem für Nachhaltigkeitsaktivitäten – die sogenannte EU-Taxonomie – für die ersten Umweltziele in Kraft getreten. Zunächst mussten vereinfachte Angabepflichten für klimabezogene Umweltziele erfüllt werden. Ab 2023 wird eine umfängliche Berichterstattung für die betroffenen Unternehmen verpflichtend. Im Jahr 2024 wird die ökologische Taxonomie um die weiteren vier Umweltziele ergänzt. Noch in Ausarbeitung befindet sich die Klassifizierung der sozialen Nachhaltigkeit. Die Einführung der sozialen Taxonomie ist von hoher Bedeutung, um die Kapitalmarktströme auch in diese Bereiche zu lenken.

    Ende des Jahres 2022 wurde die Corporate Sustainability Reporting Directive von der Europäischen Kommission beschlossen. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung betrifft die Unternehmen stufenweise, abhängig von definierten Größen. Künftig werden für die Zielgruppe im Lagebericht qualitative sowie quantitative Angaben über die nachhaltige strategische Ausrichtung des Unternehmens notwendig.

    Mit ihrer Kernarbeit leistet die Sozial- und Gesundheitswirtschaft bereits einen weitreichenden Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft. Dennoch sind auch soziale Organisationen in zunehmendem Maße aufgefordert, den regulatorischen Anforderungen Folge zu leisten.

    „Für viele Akteure der Sozial- und Gesundheitswirtschaft stellen die gesteigerten Anforderungen an die Nachhaltigkeit auch eine Chance der Unternehmensentwicklung dar.“

    Oliver Luckner, Mitglied des Vorstandes

    Mit einer Analyse der Möglichkeiten und Grenzen für eine nachhaltige Leistungserbringung werden die Bank für Sozialwirtschaft und die BFS Service GmbH die Akteure bei dieser anspruchsvollen Aufgabe unterstützen. In Band 1 „Erfolgsfaktor Nachhaltigkeit in der Sozialwirtschaft“ hat die BFS die Rahmenbedingungen und Anforderungen an ein nachhaltiges Sozial- und Gesundheitswesen in den Blick genommen. Einzelne Aspekte der Nachhaltigkeit, aktuelle Trends sowie die gesetzlichen Anforderungen an eine nachhaltige Betriebsführung werden in der Veröffentlichung thematisiert und auf die Branche adaptiert.

    Die Publikationsreihe wurde im März 2023 um Erkenntnisse einer deutschlandweiten Umfrage zum Stand und den Herausforderungen von Nachhaltigkeit in der Sozial- und Gesundheitswirtschaft ergänzt: Es zeigt sich, dass Nachhaltigkeit noch nicht ausreichend in die betrieblichen Prozesse eingebunden ist. Grundsätzlich haben soziale Organisationen aber erkannt, dass Investitionen in die Nachhaltigkeit über die Erfüllung gesetzlicher Auflagen hinaus im Nachgang mit maßgeblichen Vorteilen verbunden sind, wie z. B. Kostensenkungen, Steigerung der Arbeitgeberattraktivität und Motivation der Mitarbeitenden.

    Die Realisierung dieser Vorteile erfordert jedoch finanzielle Ressourcen, um betriebliche Prozesse anzupassen, Personal einzustellen, Investitionen in Immobilien und technische Ausstattung vorzunehmen sowie Erfassungssysteme von Nachhaltigkeitskennzahlen zu implementieren. In der Praxis stellen fehlende Anreiz- und Refinanzierungsstrukturen in den ordnungs- und leistungsrechtlichen Rahmenbedingungen derzeit eine massive Hürde dar, solche Investitionen zu tätigen. Darüber hinaus besteht bei einer Vielzahl von Themen Unterstützungsbedarf, insbesondere bei Refinanzierungsfragen, Fördermittelberatung sowie Personalqualifizierung und -gewinnung für Nachhaltigkeitsthemen. Band zwei und drei der Fachserie zeigen neben den Umfrageergebnissen die Chancen von Nachhaltigkeit für die Unternehmensentwicklung sowie praxisnahe und lösungsorientierte Handlungsimplikationen für Unternehmen auf.

  • Europäische Entwicklungen

    Bestimmendes Thema im Jahr 2022 war auch auf europäischer Ebene der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die EU reagierte mit massiven Sanktionen gegen Russland sowie umfassenden Hilfsmaßnahmen und finanzieller Unterstützung für die Ukraine. Zudem wurde der Ukraine der Status eines EU-Bewerberlandes zuerkannt.

    In der Gesundheitspolitik wurde die in Reaktion auf die Corona-Pandemie im Jahr 2020 angekündigte Europäische Gesundheitsunion vervollständigt. Der neue Rechtsrahmen stärkt die Handlungsfähigkeit der EU im Hinblick auf Prävention und Bewältigung zukünftiger Gefahren für die öffentliche Gesundheit und trägt zur Stärkung der europäischen Gesundheitssysteme bei.

    Sozialpolitisch stand weiterhin die Umsetzung des Aktionsplans zu der 2017 proklamierten Säule sozialer Rechte auf der Agenda. Hinsichtlich der drei EU-Kernziele in den Bereichen Beschäftigung, Kompetenzen und Armutsbekämpfung haben sich alle Mitgliedsstaaten zu nationalen Zielquoten verpflichtet, die bei Verwirklichung dazu beitragen, dass die EU-Kernziele bis 2030 erreicht bzw. teilweise übertroffen werden können. Zudem wurde die EU-Strategie für Pflege und Betreuung verabschiedet, die sich an Pflegebedürftige und -personal richtet mit dem Ziel, hochwertige, bezahlbare und zugängliche Pflege- und Betreuungsdienste EU-weit zu gewährleisten.

  • Ausblick

    Vor dem Hintergrund der auch künftig stark steigenden Versorgungsbedarfe werden sich die Herausforderungen hinsichtlich Finanzierung und Fachkräftemangel immer deutlicher abzeichnen. Einrichtungen werden insbesondere gefordert sein, einen Abbau von Kapazitäten bzw. eine Minderbelegung infolge eines drohenden Personalmangels zu verhindern.

    Gleichzeitig wird der Leistungs- und Kostendruck der Anbieterseite tendenziell weiter ansteigen. Eine Ausweitung der Leistungserbringung und die Sicherung der Markt- und Zukunftsfähigkeit durch eine Anpassung von Angeboten, Einrichtungen und Unternehmensstrukturen werden unerlässlich. Das setzt jedoch eine ausreichende Investitionsfähigkeit voraus.

    Auch in Zukunft ist nicht von einer ausreichenden Kapitalbereitstellung durch die öffentlichen Haushalte auszugehen. Folglich wird der Bedarf der Sozialunternehmen an Kredit- und Kapitalmarktmitteln weiter zunehmen. Dabei verbreitert sich sowohl die Spanne der benötigten Finanzierungsvolumina als auch der Finanzierungsinstrumente. Die Kooperation der Organisationen mit einem branchenkundigen Finanzierungspartner bleibt ein entscheidender Erfolgsfaktor.

    Neue Aspekte wie die Digitalisierung und Fragestellungen der Nachhaltigkeit von Betriebsführung und Immobilienbestand werden eine größere Rolle in der strategischen Planung einnehmen müssen. Die Sozial- und Gesundheitswirtschaft jedoch hat die Chance, in der Gesellschaft eine Vorreiterrolle in diesen Bereichen einzunehmen und infolgedessen auch von den damit verbundenen Vorteilen z. B. am Bewerbermarkt zu profitieren.